

Wer macht denn sowas, das ist verrückt.
Sie sitzen am Küchentisch beim Abendessen. Wie immer werden viele unterschiedliche Speisen aufgetischt und gemeinsam vertilgt man sie genüsslich. Beide sind schon etwas aufgeregt, denn heute ist der Tag der Offenbarung. An diesem Abend sollen die Eltern erfahren, dass sie den Sohn und die Schwiegertochter, die sie wie eine eigene Tochter lieben, für mindestens ein Jahr vermissen werden. Die Anspannung ist groß, bis dann der mehr oder weniger passende Moment kommt, Deborah ihren Sven anstupst und er einfach so verraten muss: „Wir wollen nächstes Jahr ins Ausland gehen…ja, etwas länger, ein Jahr mindestens.“
Das ist nun ein paar Monate her und so hatten sie nicht nur einmal, sondern ziemlich oft mit unterschiedlichen Menschen, die ihnen nahestehen, die anstehende Veränderung besprochen. Bei Eltern, Geschwistern, Verwandten, Bekannten, Kollegen und Freunden war es immer wieder sehr spannend, wie unterschiedlich die Reaktionen ausgefallen sind. Manche freuen sich einfach für das fremde Glück, andere sind neidisch oder im Gegenteil naiv positiv. Wieder andere stehen dem Vorhaben mit gemischten Gefühlen gegenüber und lassen vereinzelt Zweifel erkennen oder sehen sogar nur die negativen Seiten, fragen nach Geld, Naturkatastrophen, Krankheiten und Unfällen.
Aber Eines ist immer gleich: alle sind zunächst erstaunt und überrascht. Derweil gibt es doch angeblich immer mehr junge Menschen, die es in fremde Länder verschlägt, auch für längere Zeit. Nur bei ihnen rechnet man nicht damit?
Haben sie erwartet, dass nach der Hochzeit fleißig jahrelang gearbeitet wird, dann Kinder gezeugt werden und irgendwann ein Haus dasteht? Eben einen typisch deutschen Lebenslauf?
Dass eine Generation, die in einem Land mit einer Mauer groß geworden ist, nicht alle Facetten der heutigen Aufwachsenden verstehen und nachvollziehen kann, ist nur natürlich. Allerdings war die Frage nach dem Warum, dem Sinn und Grund der Reise, doch sehr verwirrend.
Mal ganz allgemein: ist es nicht entscheidend, die Welt mit eigenen Augen, mit allen Sinnen und dem Herzen zu entdecken, um sich eine offene und umfassende Meinung zu bilden? Hat man nicht überhaupt das Recht, seinen Horizont zu erweitern und die Sinne zu schärfen in einer Art und Weise, die einem selbst gefällt? Warum werden dann Reisende, die ihr Leben existentiell nach anderen Menschen, Orten und Bestimmungen ausrichten, häufiger hinterfragt, als beispielsweise Leseratten, die sich die Welt vom Sofa aus erklären?
Manchmal konnten sie nicht anders, da wurde diese Frage mit der Antwort kommentiert: „ich verstehe die Frage nicht“. In ihren Augen ist das Reisen nicht einfach nur ein langer Urlaub, nach dem man erholt zurückkehrt, sondern eine Entdeckungsreise zu sehr verschiedenen Orten, Kulturen und Mentalitäten, aber auch zu anderen Sichtweisen, Überzeugungen und Lebensstilen. Genauso stark eine mutige Reise zu sich selbst und in Verbindung mit dem Anderen zu einer Beziehung, die vieles erlebt und durchsteht, gute und auch herausfordernde Momente teilt und vor allem immer enger zusammenwächst. Solche Erfahrungen wünschen sich die beiden und freuen sich über weitere Unterstützung von Freunden und Familie, die sie in den letzten Jahren schon so oft genießen durften. Für sie ist es ein großer Traum, der nun endlich gelebt werden soll. Doch jeder Einzelne, wo er auch lebt, soll seinen persönlichen Weg der Entdeckung und des Lebens finden, hinter seinen Entscheidungen stehen und Veränderungen im Leben positiv entgegensehen.
Und wie fühlt man sich, so kurz davor?
Sie sind dankbar, gleicher Gesinnung zu sein, schimpfen sich selbst gern als verrückt und unnormal und genießen es, alles ein letztes Mal zu tun. Ein letztes Mal Döner, ein letztes Mal duschen bei den Eltern, ein letztes Mal Dresden besuchen, ein letztes Mal zur Geburtstagsfeier, ein letztes Mal einkaufen, ein letztes Mal…