

Zwölf Tage anders
Man stelle sich folgende Ausgangssituation vor: wunderschöne Natur, nur wenige bis keine Touristen, gelassene Menschen, vorwiegend schlechte Straßen und allgegenwärtiger portugiesischer Einfluss in der Architektur, der Sprache, der Religion, dem Lebensstil und dem Essen. Die Kinder rufen aufgeregt den Fremden und anders aussehenden Besuchern „Malai“ hinterher, das Internet ist eine seltene Sensation und es gibt, typisch portugiesisch, kaum Verhandlungsmöglichkeiten in den einfachsten Situationen. Mach es oder lass es. Diesen etwas wirren Einruck bekamen Deborah und Sven zu Beginn ihres Besuches in Timor-Leste bzw. Osttimor. Das jüngste Land Asiens erlangte im Jahr 2002 seine Unabhängigkeit, war bis 1974 eine portugiesische Kolonie und wurde direkt im Anschluss von Indonesien besetzt. Etwa 100.000 Menschen verloren in den folgenden 24 Jahren bei gewaltsamen Auseinandersetzungen ihr Leben. Nach dem Unabhängigkeitsreferendum im Jahr 1999, welches in der Bevölkerung eine mehrheitliche Befürwortung der Unabhängigkeit ergab, brach erneute Verwüstung, Zerstörung und Chaos aus. Tod und Flucht waren die Folge. Daraufhin wurde Timor-Leste unter eine Übergangsverwaltung der Vereinen Nationen gestellt, bis ins Jahr 2002. Heute sind die Beziehungen zu Indonesien entspannt und vertrauensvoll.
Das 500 Kilometer von Australien entfernte Land hieß sie mit einem winzigen Flughafen in der Hauptstadt Dili willkommen, wo sie vom Flieger direkt in die kleine Halle marschieren konnten. Fehlte nur noch, dass sie ihr Gepäck direkt vom Bauch des Fliegers abholen sollten. Als deutsche Staatsbürger brauchten sie kein Visum und bekamen direkt die Aufenthaltsgenehmigung für 90 Tage. Glücklicherweise konnten die beiden mehr als die Hälfte ihres Gepäcks bei ihrer zukünftigen Unterkunft in Bali lassen und hatten somit jeder nur einen schweren Rucksack für die zwölf Tage in Osttimor dabei. In der Ankunftshalle wurden sie von einer Traube von Taxifahrern umzingelt, die um ihre Gunst warben. Das Pärchen lehnte dankend ab und machte sich auf den Weg zum 500 Meter entfernten Kreisverkehr, der als zentrale Bushaltestelle galt. Zumindest hatten sie das vorher gelesen. Die Sonne brannte heiß, doch es war nicht weit. Verschwitzt erreichten sie das Kreisel und standen dann etwas planlos in der Gegend herum. Kleine Minibusse, Mikrolets genannt, sausten an ihnen vorbei. Jedes hatte eine andere Farbe und war mit einer anderen Ziffer versehen. Die wenigen Menschen am Rand schauten sie interessiert an, konnten ihnen aber nicht helfen, da sie kein Englisch verstanden. Auch die Busfahrer, die die schrägsten Musikstile vertraten und möglichst schrille Töne aus den Lautsprechern ihres Dienstautos pressten, wussten mit den englischen Fragen und Beschreibungen nichts anzufangen. Was nun? Kurz bevor die beiden einfach irgendeinen Bus wählen wollten, kam ein junger Portugiese auf sie zu und bot seine Hilfe an. Er nahm sie in seinem Jeep mit bis zu der Straße, wo sie eine Unterkunft für Backpacker vermuteten. Zwar waren einige Hotels und Gasthäuser in ihrer Karte eingezeichnet, doch sie mussten feststellen, dass die Hälfte davon nicht mehr existierte. Die andere Hälfte war viel zu teuer. In Osttimor werden US-Dollar als Zahlungsmittel verwendet. Alles unter einem Dollar wird durch Centavos-Münzen abgedeckt. Der jüngste Einsatz der UN bis ins Jahr 2012 führte zu horrenden Preisen für normale Dinge des Alltags. Besonders für Touristen werden die Kosten nicht gesenkt. So zahlt man normalerweise für eine Übernachtung mindestens 35 Dollar zu zweit und bekommt nicht gerade einen besonderen Standard geboten. Ein günstiges Essen im Restaurant kostet um die fünf Dollar, wobei auch heimische und preiswertere Lokale zu finden sind.
Deborah und Sven fragten sich durch die ganze Stadt, fuhren dann doch noch mit dem Mikrolet und schleppten sich durch die Hitze. In einem Hostel warteten sie auf den Chef und nutzten die Zeit, um ohne ihr Gepäck in der Gegend weiter herumzufragen. Überall war es für sie zu teuer. Bis in die Abendstunden dauerte ihre Suche an, doch jetzt kannten sie sich auch in der Stadt aus. Schlussendlich kehrten sie zu dem Hostel zurück und bezogen ein Zelt im Garten, da alle anderen Betten bereits belegt waren. Natürlich waren die wenigen Unterkünfte entsprechend gefragt. Drei Nächte blieben sie im Zelt und fühlten sich sehr wohl. Sie schliefen trotz dünner Matratze und Betonboden überraschend gut.
Die Tage nutzten sie, um sich die Hauptstadt anzuschauen und an der Promenade zu flanieren. Außerdem suchten sie günstiges Essen und kehrten immer wieder zu dem westlichen Anlaufpunkt schlechthin zurück, zu einem von vier Burger Kings des Landes, wo sie für 20 Cent ein Eis kauften und dafür eine halbe Stunde Internet dazu bekamen. Die Jesusstatue am anderen Ende der Stadt wurde schnell zu ihrem Lieblingsplatz. Dort kamen sie mit einem Mikrolet günstig hin und genossen den Strand mit glasklarem Wasser zusammen mit einigen Leuten aus ihrem Hostel oder ein paar Tage später zu zweit. Für den genialen Ausblick nahmen sie die vielen Stufen und kletterten über die Absperrung auf einen Felsvorsprung. Vor ihnen lag das Meer mit ein paar Inseln und zwei wunderschönen blauen Buchten mit weißem Sand, hinter ihnen die Statue und die untergehende Sonne. Es konnte nicht schöner sein. Die Farben änderten sich ständig und bald wurde es dunkel. Die Mikrolets hatten bereits ihren Dienst eingestellt und Deborah und Sven waren statt ihrer Flipflops für den Notfall zumindest mit Turnschuhen ausgerüstet. Falls sie die acht Kilometer nach Hause laufen müssten. Doch eine freundliche Mitfahrgelegenheit fand sich immer. Auf der Ladefläche eines Pickups nahmen sie zusammengequetscht Platz und wurden in der Stadtmitte abgesetzt.
Sie entschieden sich dazu, die 120 Kilometer entfernte Stadt Baucau zu besuchen. Dafür nahmen sie am nächsten Tag ein Mikrolet bis zum Busbahnhof und achteten gut auf ihre Rucksäcke. Chaotisch und dreist sollte es an der Busstation zugehen, so warnte man sie vor. Tatsächlich versuchten viele junge Männer, sich ihre Rucksäcke zu schnappen, um sie in einen der vielen Busse zu verstauen, die nach Baucau fahren sollten. Zu Beginn verrieten sie nicht, wo sie hinwollten, um sich wenigstens ein paar Minuten umschauen zu können. Doch viele Anlaufstellen gab es von Dili aus nicht. Schnell zerrten die Männer an ihnen und den Rucksäcken herum und versuchten sie, für diesen oder jenen Bus zu überreden. Preisunterschiede gab es keine, wodurch sich das Pärchen für den vollsten Bus entschied, der sicherlich bald losfahren würde. Nun saßen sie auf der vorletzten Reihe und leider direkt unter dem Lautsprecher, der für die nächsten fünf Stunden ohrenbetäubende Musik von sich gab. Sie versuchten, den Lautsprecher mit einem Tuch und ihre Ohren mit ein paar Handykopfhörern abzudichten. Eine Stunde später, als auch der letzte Platz besetzt war, fuhren sie endlich los. Zunächst kamen sie nicht weit, da der Bus wegen eines jammernden Passagiers auf der letzten Bank umdrehte. Sie fuhren alles wieder zurück, weil ein Mann seinen Beutel vergessen hatte. Hoffentlich war dort nicht nur die nächste Mahlzeit drin. Dann waren sie wieder auf dem richtigen Kurs und bretterten stundenlang über die schönste Buckelpiste am Meer entlang. Immer wieder kamen undurchdringliche Staubwolken durch die offenen Türen und Fenster herein und zogen in die letzten Ritzen. Ab und zu hielt der Bus an, um jemanden mitzunehmen oder abzusetzen. Dabei kletterten die Fahrgäste bei voller Fahrt vom Dach und wieder hinauf. Nach zwei Stunden hielten sie für eine kurze Pause am Rand der Straße. Einige Läden hatten sich auf Instantnudeln spezialisiert und verkauften die plastikaufwendige Mahlzeit zusammen mit heißem Wasser. Überall lag der Müll davon herum. Es stank nach Urin, weil es bei der einzigen Pause keine Toiletten gab! Ordentlich durchgeschüttelt und mit Staub überzogen kamen Deborah und Sven schließlich in Baucau an und wurden direkt an einem Gasthaus herausgelassen, das sie im Reiseführer gefunden hatten. Auch hier sollte das Zimmer mit Klimaanlage 35 Dollar kosten. Der Standard war haarsträubend, aber von der Terrasse konnten sie das Meer sehen. Sie drückten den Preis wenigstens um fünf Dollar und bezogen das Zimmer.
Baucau ist eine sehr ruhige und beschauliche Stadt. Die beiden schauten sich am Abend auf dem Markt und in den Straßen um. Am Ende einer Gasse war so etwas wie ein Boxring aufgebaut. Nur dass hier nicht geboxt, sondern gehackt wurde und die Federn flogen. Ausschließlich Männer waren mit ihren Hähnen anwesend, um die Tiere gegeneinander auszuspielen. Ein schreckliches und trotzdem faszinierendes Schauspiel. Zum Abendessen bekamen sie eine indonesische „Bakso“ (Suppe mit Nudeln, Fleischbällchen, Tofu und Ei) serviert, verschätzten sich aber etwas mit der Zugabe von Chili und brauchten dementsprechend länger, um die scharfe Suppe zu löffeln. Danach waren sie vollkommen verschwitzt und fertig vom Essen. Am folgenden Tag entdeckten sie einen wunderschönen gepflasterten Weg durch die hügelige Wohngegend von Baucau und wurden von den Anwohnern aufgeregt begrüßt. Die Sonne stand schon tief am Himmel und tauchte die lebendige Szenerie in warmes fließendes Licht. Kinder tollten barfuss auf den spitzen Steinen umher, die Erwachsenen tauschten sich gelassen aus und die Hühner, Schweine, Katzen und Hunde liefen frei herum. Am Wegesrand wuchsen ein paar Granatäpfel.
Auch der Weg Richtung Strand war sehr schön angelegt und von Natur umgeben. Einen Tag später wurde dieser erkundet. Die beiden brauchten pro Strecke fast zwei Stunden, zum Strand ging es bergab, zurück zur Stadt bergauf. Sie kamen an Palmen, riesigen Bäumen mit horrenden Wurzeln, Reisterrassen, Wohnhäusern, einem Friedhof und einer Schule vorbei. Das Meer begrüßte sie stürmisch und aufbrausend, die blauen Wellen rollten unermüdlich auf den feinen Sand zu. Türkis mischte sich mit himmelblau und dunkleren Tönen. Weiter ging es am Strand entlang in einer trocken anmutenden Steppe, die genauso gut auch in Afrika liegen könnte. Bevor der Weg im Nichts endete, fanden sie wenige aus Naturmaterial gefertigte Häuser vor und wurden von unzähligen Kindern, die allesamt wie Ronja Räubertochter aussahen, eifrig beäugt. Dann kam der anstrengende Rückweg. Anfangs hofften sie noch auf ein Mikrolet, das sie vielleicht zurück in die Stadt bringen könnte, doch nach halber Strecke war die Hoffnung dahin. Den Rest schafften sie auch noch und belohnten sich mit lokalem Essen in einem schöneren Restaurant mit Aussicht. Nach dem Sonnenuntergang kam eine katholische Prozession mit Massen an Menschen an der Straße vorbei, Fronleichnam wurde auch in Timor-Leste gefeiert.
Der Bus brachte sie zurück nach Dili. Merkwürdigerweise kostete die Rückfahrt einen Dollar mehr als die Hinfahrt. Da der Preis aber auch von den Einheimischen ohne Murren bezahlt wurde, legten Deborah und Sven kein Veto ein. Sie waren sowieso froh, im Bus zu sitzen. Als sie mit dem Mikrolet an der Busstation ankamen, wurden sie von den „Anwerbern“ unerhört aufdringlich umworben. Mindestens zehn Männer redeten unentwegt auf sie ein, zogen stark an ihren Rucksäcken und ihren Armen, drängten sie in die Richtung eines bestimmten Busses und machten sich über ihre Wehrversuche lustig. Die Deutschen waren so perplex, dass sie nicht wussten, ob sie lachen oder weinen sollen. Ein Mann schnappte nach Deborah`s Stoffbeutel und ließ nicht mehr los. Sie mussten mit den Männern wie mit unanständigen Kindern reden, um nicht vollkommen unterzugehen. Mit lautem Getöse wurden sie hin und her geschubst und gedrängt. Letztendlich standen sie in der Tür des Busses ihrer Wahl und waren noch etwas unschlüssig. Von hinten kniffen die Sensationswilligen in ihre Schenkel und lachten immer noch. Kein besonders schöner Abschied von der Stadt Baucau, aber wenigstens hatten die beiden zur Unterhaltung in der von Langeweile geplagten Gesellschaft beigetragen.
Die Rückfahrt war durch dezentere Musiklautstärke etwas angenehmer als die Hinfahrt, dauerte aber genauso lang. Chinesen bauten momentan die Straße zwischen Dili und Baucau und werden sich zukünftig nicht nur mit diesem Bauprojekt in dem jungen Land zufrieden geben. In Dili bezog das Pärchen zum ersten Mal ihrer bisherigen Reise ein Mehrbettzimmer für zwei Nächte, bevor sie nochmals nach dem Zelt fragten. In der Stadt gab es noch das „Museum des timoresischen Widerstands“ und den „Santa Cruz-Friedhof“ zu sehen. Außerdem verschiedene Kathedralen, den Präsidentenpalast (den sie mit kurzen Hosen und normalem T-Shirt nicht betreten durften) und ein Einkaufszentrum. Auch den Lieblingsplatz an der Jesusstatue besuchten sie noch einmal und genehmigten sich zum Sonnenuntergang einen Rotwein in wahnsinnig schönem Ambiente.
Osttimor wird uns noch lang im Gedächtnis bleiben. Das Land ist sehr faszinierend, bietet wunderschöne Natur und kommt mit offenen und gelassenen Menschen daher. Wir waren bestimmt nicht das letzte Mal dort. Nun haben wir einen ganzen Monat Bali vor uns und können mal ohne Einpacken, Umziehen, Rumreisen und Bett wechseln die Zeit an einem Ort genießen. Außerdem bekommen wir bald Besuch!
7 Kommentare. Hinterlasse eine Antwort
Steile Berge, das endlose blaue Meer und ordentliche Vegetation, eine bessere Kombination kann es nicht geben. Hoffentlich kriegt das hier in Europa niemand mit, damit es so idyllisch und touristenleer bleibt! Viel Spaß weiterhin, Samuel
Oh ja, das hört sich gut an. Osttimor ist eines der wenigen Länder, das touristisch noch relativ unentdeckt ist. Mal sehen, was die nächsten Jahre für das Land so bringen, es gibt ja auch jede Menge ausländische Organisationen und Programme, die Entwicklungszusammenarbeit leisten…ob das immer der beste Weg ist, sei dahingestellt. Vielleicht haben wir in zwanzig Jahren oder so nochmal die Chance, Osttimor erneut zu besuchen und zu sehen, wie es sich verändert hat. Das wäre wahnsinnig interessant. Sonnige Grüße von der Insel 🙂
Am besten, ihr macht die gleiche Reise in 20 Jahren noch einmal. Dann könnt ihr bei allem sehen, wie es sich verändert hat. Aber wahrscheinlich ist euch das trotzdem zu langweilig und ihr sucht lieber eine neue Route durch Länder, in denen ihr bisher noch nicht wart, zum Beispiel Französisch-Guayana, Polynesien, Dschibuti oder Rheinland-Pfalz…
Das wäre eine spannende Sache! Die andere Route klingt aber auch nicht schlecht:) Mal sehen, was in 20 Jahren so geht!
Wenn Ihr wieder nach Osttimor fahrt, nehmt mich mit! Das Meer sieht heeeerrrrrlich aus!
In 20 Jahren bin ich schon zu klapprig, geht es auch eher?
Liebste Grüße und viel Spaß mit Nötzis, nun seid Ihr ja schon 5 von der Sorte…!
Eure Mutsch
Da brauchst du doch nicht auf uns zu warten, Badesachen eingepackt und los!:)
Vielleicht treffen wir uns ja unter Wasser;)
Danke, es regnet leider momentan den ganzen Tag…Gruß in die Heimat!
Klingt schon gut,dieser Ostzippel Indonesiens, verrückte Leute dort,was? De Busfahrer.
Weiterhin schönen Urlaub! Zeigt dem Bubi mal, wie gekocht wird(woanders)!